

Rotkäppchen und der Stress (Ent-)Spannendes aus der Gehirnforschung von Manfred Spitzer
Ein Titel aus der Reihe "Wissen & Leben"
Herausgegeben von Wulf Bertram
252 Seiten, 51 Abbildungen, 11 Tabellen
Schattauer, 2014
ISBN 978-3-7945-2977-3
Preis: 19,99 Euro (D) / 20,60 Euro (A)
Was ist Stress? Bisher hatte ich immer den Eindruck, jeder versteht etwas anderes darunter. Für die einen ist es die dauernde Überforderung im Beruf, für andere sind es kurzzeitige Belastungen in besonderen Situationen.
Doch im (Tier-)Experiment hat sich gezeigt, dass nicht unangenehme Erfahrungen an sich Stress bewirken, sondern das Gefühl, ihnen machtlos ausgeliefert zu sein. Und so ist es wohl auch im menschlichen Leben. Wenn wir keine Möglichkeit haben, die Situation zu beeinflussen, löst das bei uns chronischen Stress aus.
Besonders das subjektive Empfinden eines Menschen ist ausschlaggebend für den Grad der akuten und chronischen Auswirkungen von Stressreaktionen.
Prof. Spitzer gibt in seinem neuesten Buch u.a. Antworten, wie wir mit Stress besser umzugehen lernen. Er definiert in seinem Buch Stress als "eine akute Notfallreaktion des Körpers, die mit dem Ausschütten von Hormonen der Nebennierenrinde (...) und des Nebennierenmarks (...) einhergeht. Diese Stresshormone bewirken insgesamt Maßnahmen, die Energie für Höchstleitungen mobilisieren und damit im Notfall von extremer Bedeutung sind: Puls, Blutdruck und Blutzuckerspiegel steigen an, die Muskeln werden straffer, die Aufmerksamkeit steigt, sodass der Organismus kämpfen oder fliehen kann. Hingegen werden bei unmittelbar drohender Gefahr Körperfunktionen wie Verdauung, Immunabwehr, Wachstum oder Fortpflanzung durch Stresshormone herabgeregelt" (S. 33).
In unterhaltsamer Form zeigt Manfred Spitzer (Stress-)Situationen auf, die jeder von uns kennt. Er belegt seine Aussagen mit wissenschaftlichen Forschungsergebnissen, die beim Lesen häufig ein Kopfschütteln erzeugen: So haben wir das nicht vermutet! Viele Experimente über das menschliche Verhalten zeigen überraschende Ergebnisse, die zum Teil wirklich paradox erscheinen.
Auch wie wichtig Selbstbestimmung, Selbstkontrolle, Achtsamkeit (= eine Form der Aufmerksamkeit), Literatur, Empathie und Verstehen für unser Leben sind, erfahren wir in diesem Buch.
Wer immer noch denkt, die "Cloud" ist ja nur eine Wolke, wird hier eines besseren belehrt. Auch wie die Einträge bei Facebook durch den "Gefällt mir"-Button auf Vorlieben und Abneigungen der Nutzer schließen lassen, wird durch entsprechende Untersuchungen belegt. Und die sind schon sehr erschreckend!
Für mich besonders beeindruckend war das Kapitel mit dem Titel "Fernsehen - erst gar nichts und später das Falsche lernen". Der Untertitel lautet: Von hibbeligen Mäusekindern zu arbeitslosen und kriminellen Erwachsenen.
Dass das Fernsehen schon immer einen gewaltigen Einfluss auf Kinder hatte, war mir bewusst. Doch wie sich der Fernsehkonsum in einer Studie von einem amerikanischen Kinderarzt bei jungen Mäusen auswirkt, ist sehr beeindruckend.
Eine weitere Studie aus Neuseeland, die 2013 veröffentlicht wurde, zeigt ganz eindeutig, dass es "einen signifikanten Zusammenhang zwischen dem Fernsehkonsum in Kindheit und Jugend einerseits und dem Bestehen einer antisozialen Persönlichkeitsstörung im Erwachsenenalter sowie nachgewiesenen kriminellen Handlungen im Erwachsenenalter andererseits" (S.157) gibt.
Auch die neue Art des Umblättern, das Wischen über Smartphones und Tablet-PCs, hat den Autoren zum Nachdenken gebracht. Denn dabei lässt sich nichts mehr "be-greifen". Und es ist klar, dass Kinder (und Erwachsene) davon weder sinnlich noch motorisch gefordert werden. Da stimme ich mit Herrn Spitzer vollkommen überein.
Und ob Laptop und Internet im Hörsaal ihre Berechtigung haben, wird von Prof. Spitzer mit gutem Grund bezweifelt. Denn Multitasking, also die Nutzung digitaler Medien und die gleichzeitige aufmerksame Teilnahme an Vorlesungen oder Seminaren, "ist sowohl Erkenntnissen der "klinischen" Forschung zu deren Auswirkungen auf Denken und Lernen als auch nach Erkenntnissen der Grundlagenforschung zu den Prozessen bzw. Mechanismen von Aufmerksamkeit" (S. 179) eigentlich nicht möglich. Entsprechende Untersuchungsergebnisse gibt es bereits, und die Studien belegen, dass die Lernleistung darunter leidet.
Im Kapitel "Kulturkiller iPhone" wird unterhaltsam erzählt, wie Chinesen mittels einer Tastatur nach Lautschrift schreiben und dadurch die aktive Reproduktion der Zeichen mit ihren Bedeutungen entfällt. Die Auswirkungen auf die Lesefähigkeit chinesischer Grundschulkinder ist extrem. In Untersuchungen stellte sich heraus, dass bis zu 66% eine schwere Lesestörung hatten.
Es gibt gute Gründe, sich mit diesem hervorragenden Buch zu beschäftigen. Denn viele Studien aus der Gehirnforschung werden von Manfred Spitzer detailliert und unterhaltsam präsentiert. Besonders Pädagogen, die sich in Schule und Kita oft mit sehr schwierigen Situationen auseinandersetzen müssen, werden Gefallen daran finden, den Gedanken von Spitzer zu folgen.
Fazit: Neues aus der Gehirnforschung wird auf unterhaltsame Weise präsentiert. Sehr empfehlenswert!
Prof. Dr. Dr. Manfred Spitzer studierte Medizin, Psychologie und Philosophie in Freiburg, war Oberarzt an der Psychiatrischen Universitätsklinik in Heidelberg, Gastprofessor an der Harvard-Universität und am Institute for Cognitive and Decision Sciences in Oregon. Sein Forschungsschwerpunkt liegt im Grenzbereich der kognitiven Neurowissenschaft, der Lernforschung und Psychiatrie. Seit 1997 ist er Ordinarius für Psychiatrie in Ulm. Spitzer ist Herausgeber des psychiatrischen Anteils der Zeitschrift »Nervenheilkunde« und leitet das von ihm gegründete »Transferzentrum für Neurowissenschaften und Lernen« in Ulm. Er hat mehrere neurowissenschaftliche Bestseller verfasst und moderiert eine wöchentliche Fernsehserie zum Thema Geist und Gehirn.


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